Artisterium
Tomorrow

Anna Kordzaia-Samadashvili

Aus dem Roman "Wer hat die Tschaika getötet?"
Aus dem Georgischen von Sybilla Heinze.
Vierzehntes Kapitel

Der Krieg war schon eine Zeitlang vorbei, aber das Madchen wartete noch immer auf den Vater. Sie war sich schon sicher, dass sie selbst nicht mehr sterben wurde, sie hatte uberlebt. Mutter und Schwester hatten es nicht mehr ertragen und waren gestorben. Dem Madchen kam es vor, als hatten sie es aus Schwache getan. Das Madchen liebte sie nicht mehr und dachte nicht mehr an sie. Sie hatte sie vergessen. Nur manchmal kam ihr irgendeine, auf Haut und Knochen abgemagerte, geistesgestorte Frau oder ein stets wehklagendes, kahlgeschorenes Wesen in den Sinn, das standig weinte und standig Hunger hatte. Dann schuttelte das Madchen den Kopf und dachte bei sich: Schwach!

Ja, sie selbst war aus anderem Holz geschnitzt, kam nach dem Vater. Der Vater war ein Krieger. Erst beschutzte er sein Haus, dann jagte er den Feind. Jetzt kam die Zeit, dass der Vater zuruckkehren musste. Er war nicht zu sehen, aber das Madchen wusste, er wurde zuruckkehren, und weil der Vater jeden Moment kommen konnte, setzte sie keinen Fus vors Haus.

Alle rieten ihr, das Haus zu verlassen, was solle der Scheis, was ware, wenn er nicht zuruckkame? Er kommt zuruck, sagte das Madchen. Wenn er zuruckkommt, konnte er dich doch bei den Nachbarn abholen, oder nicht? Das Madchen wollte nicht zu den Nachbarn. Zu den Nachbarn ging sie um zu arbeiten, sie ging zusammen mit anderen, erwachsenen Frauen vor einen Karren gespannt, den Kopf gesenkt, auf die Wiesen, Felder, und was sie ihr sonst noch gaben, schlug sie in ihr Kopftuch ein und trug es heim, in ihr Haus. Wenn der Vater kame, solle ihn das Abendessen erwarten oder das Fruhstuck.Hinge davon ab, wann er kame.

Dem Madchen wurde gesagt, im Dorf streunten unzahlige Gauner herum, jemand konne sie uberfallen, toten, ihr Haus niederbrennen. Das Madchen hatte ein groses Messer und furchtete sich vor nichts und niemandem.Sie hatte die Tur ordentlich verbarrikadiert, die Fenster mit angekohlten Brettern vernagelt, die sie aus Hausern in der Umgebung zusammengetragen hatte. Keiner konnte sie uberfallen oder zu ihr hineinschleichen. Das Madchen dachte, wenn der Vater im Winter kame, wurde sie die Bretter abreisen und dann hatten sie in den ersten Tagen sogar Brennholz.

Das Madchen lies sich immer nur in einen leichten Schlaf fallen, damit sie die Schritte des Vaters nicht uberhoren und ihn gleich an der Tur empfangen konnte. Der Vater kehrte in der Morgendammerung zuruck. Das Madchen hatte nichts bemerkt. Morgennebel, Stille, bald wurde die Sonne aufgehen …

Das Haus menschenleer, die Fenster vernagelt, der Hof ungefegt. Nicht mal ein Hund ist zu sehen, oder sonst irgendein Lebewesen.

Der Vater setzte den Rucksack ab, loste dessen Riemen,band sie aneinander, machte eine Schlinge, dann kletterte er hoch und knupfte ein Ende des Riemens fest an den knorrigen Ast des alten knorrigen Apfelbaums.

Das Madchen erwachte. Sie erinnerte sich nicht genau,was sie getraumt hatte. War etwa wirklich jemand gekommen? Das Madchen rannte zum Fenster und schaute durch die Ritzen zwischen den Brettern hinaus.

Sie konnte nichts sehen.Dann lief sie zur Tur,zog den schweren Riegel zuruck und ging hinaus in den Hof.

Die Zeit verging und das Madchen vergas alles, aber das, was sie jenen Morgen gesehen hatte – niemals. Niemals erzahlte sie jemandem davon, aber sie selbst erinnerte sich standig daran und das gefiel ihr nicht. Schwach,dachte sie dann.